Was sind Soziale Innovationen und welche Rolle spielen sie im Rahmen einer gesellschaftlichen Nachhaltigkeitstransformation?
Damit Deutschland bis zum Jahr 2045 treibhausgasneutral wird und somit seinen Beitrag für eine lebenswerte Zukunft leistet, bedarf es einer gesamtgesellschaftlichen Nachhaltigkeitstransformation und grundlegender Veränderungen in nahezu allen Lebens- und Arbeitsbereichen.[1] Soziale Innovationen können hierbei eine entscheidende Rolle spielen. Das scheint auch die Bundesregierung erkannt zu haben und formuliert in ihrem Koalitionsvertrag das Ziel, eine „nationale Strategie“ zur Förderung Sozialer Innovationen aufzubauen.[2]
Doch was sind Soziale Innovationen und welchen Beitrag können sie im Nachhaltigkeitskontext in Deutschland leisten? Der folgende Artikel beschäftigt sich mit genau diesen Fragen. Er greift hierfür auf die Definition Sozialer Innovationen des Vorhabens „SINA – Soziale Innovationen für Nachhaltigkeit“ zurück, das Yunus Environment Hub aktuell im Auftrag des Bundesumweltministeriums durchführt, und bedient sich zahlreicher Praxisbeispiele aus dem Kontext des Vorhabens.[3]
Was sind Soziale Innovationen? Ein Annäherungsversuch
Die Coronapandemie, die globale Klimakrise, der demographische Wandel – unsere Gesellschaft steht heute vor einer Vielzahl von Herausforderungen, die sich mit traditionellen Denkmustern kaum lösen lassen. Viel eher braucht es auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Zusammenlebens innovative Ideen und neuartige Lösungsansätze.[4] Genau hier kommen Soziale Innovationen ins Spiel. Aber was genau versteckt sich hinter diesem Begriff?
Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich ein Blick in das Ressortkonzept zu Sozialen Innovationen, das im August 2021 im Auftrag der Bundesregierung vom Bundesforschungsministerium herausgegeben wurde.[5] Hierin wird detailliert aufgezeigt, wie neun Bundesministerien Soziale Innovationen in Zukunft fördern wollen. Schon allein die Tatsache, dass sich eine Vielzahl von Ministerien bezüglich der Relevanz Sozialer Innovationen einig ist, scheint deren Bedeutung weiter zu unterstreichen. Basierend auf der Begriffskonzeption des Ressortkonzepts werden Soziale Innovationen im Rahmen des SINA-Vorhabens wie folgt definiert:
Soziale Innovationen umfassen neue soziale Praktiken und Organisationsmodelle, die darauf abzielen, für die Herausforderungen unserer Gesellschaft tragfähige und nachhaltige Lösungen zu finden. Die Träger*innen bzw. Initiator*innen der Sozialen Innovation sind Akteur*innen oder Akteurskonstellationen im öffentlichen, privatwirtschaftlichen oder zivilgesellschaftlichen Raum.
Soziale Innovationen stellen keinen Endzustand dar, sondern vielmehr (komplexe) Prozesse, die zu gesellschaftlichem Wandel führen und soziale Beziehungen neugestalten, um ein bestimmtes gesellschaftliches Ziel zu erreichen.
Diese Definition allein reicht sicherlich noch nicht für ein ganzheitliches Verständnis dafür, was Soziale Innovationen sind und wie sie zu einer nachhaltigeren Gesellschaft beitragen. Aber die Richtung wird zumindest deutlicher: Soziale Innovationen bieten neue Lösungen für aktuelle Herausforderungen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Im Nachhaltigkeitskontext zielen Soziale Innovationen entsprechend auf gesellschaftlichen Wandel und eine umweltfreundliche, klimaneutrale, sozialverträgliche und damit „enkelfähige“ Zukunft ab. Um diese zu erreichen, gestalten sie Strukturen, Produkte, Dienstleistungen und Verhaltensmuster in unterschiedlichsten Bereichen des täglichen Lebens und Arbeitens neu.
Dabei sind Soziale Innovationen in ihrer Disruption und Neugestaltung von Lebens- und Arbeitsstrukturen an keine spezifische Rechts- oder Organisationsform geknüpft. So können sie beispielsweise in Form von innovativen Sozialunternehmen und sogenannten grünen Start-Ups entstehen (wie zum Beispiel Recup; WEtell oder Vinted), aus informell organisierten Akteurskonstellationen hervorgehen (beispielsweise im Rahmen von Nachbarschaftsinitiativen und Tauschbörsen) oder innerhalb lange bestehender Industrien und Unternehmen entwickelt werden (wie das Projekt DB Medibus der deutschen Bahn, oder das aus dem Volkswagen-Konzern hervorgegangene Unternehmen Moia).
Genau diese organisationale Vielfalt Sozialer Innovationen mag ein Grund für ihre definitorische Komplexität sein.[6] Ein weiterer Faktor hierfür könnte die seit einigen Jahren rapide zunehmende Anzahl an Akteur*innen sein, die Soziale Innovationen aus unterschiedlichen Perspektiven heraus und mit unterschiedlichen Motiven betrachten und definieren.[7] Entsprechend stark unterscheiden sich Soziale Innovationen hinsichtlich ihrer Entstehung, ihrer Organisationsform, ihrer Wirkungsmission und ihren Zielgruppen. Eine grobe Einteilung der verschiedenen Formen Sozialer Innovationen lässt sich dennoch anhand von drei Kategorien vornehmen, die im Rahmen des SINA-Vorhabens identifiziert wurden: [8]
Formalisierungsgrad
Formalisierungsgrad: Soziale Innovationen können unterschiedlich stark formalisiert sein. Stark formalisierte Soziale Innovationen existieren zum Beispiel in Form von registrierten Organisationen mit formell definierter Kund*innen-Beziehung und langfristiger strategischer Ausrichtung am Markt (z.B. etablierte Sozialunternehmen). Beispiele für gering formalisierte Soziale Innovationen sind Projekte oder Bewegungen mit hoher Eigeninitiative der Nutzer*innen und undefinierten Verantwortlichkeiten (z.B. lokale Sharing-Initiativen oder Gemeinschaftsgärten auf Nachbarschaftsebene).
Wirkungsgrad
Wirkungsgrad: Im Nachhaltigkeitskontext des SINA-Vorhabens verfolgen alle Sozialen Innovationen ein klar definiertes sozial-ökologisches Ziel. Sie unterscheiden sich hierbei jedoch nicht nur hinsichtlich des jeweiligen Wirkungszieles und der zur Zielerreichung eingesetzten Mittel, sondern auch im Hinblick auf das Ausmaß der bereits erzielten Wirkung selbst. So entfalten manche Soziale Innovationen heute schon eine sehr hohe Wirksamkeit in Bezug auf einzelne Nachhaltigkeitskriterien, während andere (noch) sehr punktuell bzw. lokal wirken.
Wirkungspotenzial
Wirkungspotenzial: Neben der bereits erzielten Wirkung ist das langfristige Wirkungspotenzial entscheidend, wenn es um die langfristige Rolle als Treiber einer gesellschaftlichen Nachhaltigkeitstransformation geht. Hierbei sorgen unter anderem eine effiziente und überregionale Skalierbarkeit, eine breite Akzeptanz auf Seiten der Nutzer*innen und der entsprechende politisch-rechtliche Nährboden für ein hohes Wirkungspotenzial einzelner Sozialer Innovationen.
Welchen Beitrag können Soziale Innovationen im Nachhaltigkeitskontext leisten? Ein Blick in die Praxis
Werfen wir nach dieser definitorischen Einordnung nun einen praktischen Blick auf den aktuellen Nachhaltigkeitsdiskurs in Deutschland: Sozialen Innovationen wird zugesprochen, einen signifikanten Beitrag zur Erreichung der Pariser Klimaziele und für mehr Umweltschutz in Deutschland leisten zu können.[9] Schließlich bedarf es für eine erfolgreiche Transformation hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft einer Vielzahl an Veränderungen und neuen Lösungen in nahezu allen Bereichen unseres Zusammenlebens.
Um diese Veränderungen hin zu mehr Nachhaltigkeit voranzutreiben, leisten Soziale Innovationen in ganz unterschiedlichen Lebens- und Arbeitsbereichen bereits heute einen wertvollen Beitrag. So fördern „grüne“ Sozialunternehmen zum Beispiel die Vermeidung von Lebensmittelabfällen (Too Good To Go), entwickeln umweltfreundliche Produktalternativen (HALM), treiben ein nachhaltiges Finanzwesen voran (Tomorrow) oder bieten Unternehmen neue Wege der CO2-Reduktion und -Kompensation (KlimaKarl). Andere Soziale Innovationen entstehen wiederum in Form von lokalen Landwirtschaftskooperativen (WirGarten), Energiegenossenschaften (Buendnis Bürgenergie) oder durch Plattformen, die die Wiederverwendung von Baumaterialien ermöglichen (Concular). Auch in bestehenden Unternehmen und Industrien finden sich Soziale Innovationen und bieten neue Lösungen für Herausforderungen, die sich aus dem Klimawandel und dem Bedarf einer Nachhaltigkeitstransformation ergeben. Zu letzteren zählen zum Beispiel Car-Sharing Angebote von Elektroautos (My-E-Car), aber auch neue Dialogformate unterschiedlicher Akteure, die die Sozialverträglichkeit von Veränderungsprozessen sicherstellen (Transformationsrat Rheinland-Pfalz).
Beispiele für Soziale Innovationen aus dem Nachhaltigkeitskontext des SINA-Vorhabens sind unter anderem…
- Das Social Business Unternehmen Polarstern, das seinen Nutzer*innen dezentral produzierten Strom und Gas aus erneuerbaren Energien anbietet
- Der Verein WirGarten, der die Gründung von landwirtschaftlichen Genossenschaften durch ein eigenes Konzept und die begleitende IT-Infrastruktur unterstützt
- Der Transformationsrat Rheinland-Pfalz, im Rahmen dessen Vertreter*innen der Gewerkschaften, der Landesregierung und der Unternehmerverbände Maßnahmen entwickeln, um den Wandel hin zu einer CO2-freien Industrie im Land sozialverträglich umzusetzen
- Die digitale Plattform Concular, die die Wiederverwendung von Baumaterialien durch digitale Materialpässe und eine Matchingfunktion für Neubauprojekte ermöglicht
- Das Unternehmen Too Good To Go, das durch eine App Lebensmittelverschwendung verhindert, indem Cafés und Restaurants vor Ladenschluss über eine App mit Abnehmer*innen in der Nähe verbunden werden
- Das CRCLR House Berlin, das durch die Wiederverwendung von Baumaterialien und den Einsatz rückbaufähiger Elemente als Zero-Waste Haus und Modellprojekt für zirkuläres Bauen errichtet wurde
- Der Verein Acker, der mithilfe verschiedener Bildungsprogramme für Kitas und Schulen der Naturentfremdung von Kindern und Jugendlichen entgegenwirkt und das praktische Wissen um den Anbau von Lebensmitteln und eine gesunde Ernährung fördert
Was brauchen Soziale Innovationen zur Wirkungsentfaltung? Ein Ausblick
Damit all diese kreativen Ideen, Geschäftsmodelle und Initiativen ihre positive Wirkung als Treiber einer gesellschaftlichen Nachhaltigkeitstransformation in Deutschland nicht nur im Rahmen eines Leuchtturmprojektes oder auf lokal begrenzter Ebene entfalten, ist ihre jeweilige Verbreitung entscheidend. In der Literatur wird diese gesellschaftliche Innovationsverbreitung auch als Diffusion bezeichnet.[10]
Diffusion meint die Verbreitung einer Sozialen Innovation bzw. der dahinterstehenden Idee, Initiative oder Organisation innerhalb eines bestimmten sozialen Systems. Die Diffusionsfähigkeit einer Sozialen Innovationen hängt dabei stark von der konkreten Idee, dem jeweiligen Wirkungskontext und der Organisationsform ab.
Natürlich hängt die Diffusionsfähigkeit einer Sozialen Innovation stark von der konkreten Idee, dem Wirkungskontext und der Organisationsform ab. Nicht jede*r Träger*in einer Sozialen Innovation kann und will deutschlandweit aktiv werden und gerade in der Fokussierung auf spezifische lokale Herausforderungen liegt eine ihrer großen Stärken. Dennoch entsteht nur durch eine adäquate Förderlandschaft ein gesellschaftlicher Nährboden, der die Diffusion Sozialer Innovationen voranbringt, und deren Wirkungsentfaltung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene möglich macht.
Ohne die entsprechende Anerkennung und eine gezielte Förderung durch staatliche und nicht-staatliche Institutionen, Programme und Akteur*innen scheitern kreative Initiativen und wirkungsvolle Ideen im Nachhaltigkeitskontext aktuell noch zu häufig schon in der Entwicklungsphase. So fehlt es in Deutschland sowohl an niedrigschwelligen und frühphasigen Finanzierungsinstrumenten und Förderprogrammen, die sich explizit an Soziale Innovationen richten, als auch an Mischformen der Finanzierung für spätere Phasen.[11] Gleichzeitig stellen der Mangel an adäquaten Rechtsformen für Sozialunternehmen, eine anhaltende Subventionierung nicht nachhaltiger Praktiken und Geschäftsmodelle und hohe administrative Anforderungen in einzelnen Sektoren weitere Einstiegshürden für Soziale Innovationen in Deutschland dar, wie die vielen Gespräche mit Akteur*innen aus der Praxis, die im Rahmen des SINA-Vorhabens geführt wurden, zeigen.
Es genügt ein Blick auf das Vereinigte Königreich oder Portugal, um festzustellen, dass die Förderlandschaft für Soziale Innovationen in Deutschland (insbesondere im internationalen Vergleich) noch in den Kinderschuhen steckt.[12] So gehörte das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland zu den ersten Kontexten weltweit, in denen spezifische Rechtsformen für Sozialunternehmen auf den Weg gebracht wurden (z.B. die sogenannte Community Interest Company[13]). Um private Investitionen in Soziale Innovationen zusätzlich zu fördern, erhalten britische Investor*innen im Rahmen des Social Investment Tax Relief (SITR) Programms Steuererleichterungen.[14] Die portugiesische Regierung setzt innerhalb ihrer Initiative Portugal Social Innovation rund 150 Mio Euro aus dem Europäischen Sozialfonds ein, um Soziale Innovationen zu fördern, und ist damit eines der ersten Länder in Europa, das die Fördermittel aus dem EU-Topf gezielt zur Finanzierung Sozialer Innovationen einsetzt.[15]
Der Eindruck, dass die Förderlandschaft für Soziale Innovationen in Deutschland noch einiges an Nachholbedarf aufweist, wird neben dem internationalen Vergleich auch durch einen Blick auf die Förderlandschaft rund um technologische Innovationen und herkömmliche, profitorientierte Startups bekräftigt. So betonen Gesprächspartner*innen aus der Praxis immer wieder die ungleiche Verteilung von Fördermitteln und Inkubationsprogrammen in Deutschland, die sich gezielt an technologische Innovationen richten, für Soziale Innovationen jedoch nicht ausreichend geöffnet werden.
Mit welchen spezifischen Hürden sich etablierte und entstehende Soziale Innovationen in Deutschland konfrontiert sehen und welche Unterstützungs- und Fördermaßnahmen Abhilfe schaffen können, um das Wirkungspotenzial Sozialer Innovationen zu steigern, wird im Rahmen des Vorhabens „SINA – Soziale Innovationen für Nachhaltigkeit“ im Auftrag des Bundesumweltministeriums durch Yunus Environment Hub erforscht. Einen ersten Überblick über Hürden und Maßnahmenindikationen bietet das SINA Fact Sheet. Weitere Informationen zum SINA-Vorhaben finden Sie unter si-na.org.
Quellen
[1] Siehe hierzu unter anderem: Prognos, Öko-Institut, Wuppertal-Institut (2021): Klimaneutrales Deutschland 2045.Wie Deutschland seine Klimaziele
[2] Koalitionsvertrag (bundesregierung.de)
[3] Für mehr Informationen zum SINA-Vorhaben siehe si-na.org
[41] Projektträger Jülich (2016): Ein neuer Weg
[5] BMBF (2021): Ressortkonzept zu Sozialen Innovationen (bmbf.de)
[6] Projektträger Jülich (2016): Ein neuer Weg
[7] Schmitz (2016): Zur Messung sozialer Innovationen
[8] Die identifizierten Kategorien basieren auf einer ausführlichen Literaturrecherche, der Identifikation von Kerneigenschaften, die sich zur Dimensionierung Sozialer Innovationen eignen, einer anschließenden Kategorisierung hiervon und der Validierung anhand von Praxisbeispielen und Expert*innengesprächen.
[9] Siehe hierfür beispielsweise: Umweltbundesamt (2022): Soziale Innovationen; CSI & Joanneum Research Policies (2020): Studie zu Folgenabschätzung von Sozialen Innovationen
[10] Hasselkuß (2018): Transformative soziale Innovation durch Netzwerke (wupperinst.org)
[11] Siehe unter anderem: Sustainable Finance Beirat (2021): Abschlussbericht; SEND e.V. (2022): Deutscher Social Entrepreneurship Monitor 2022
[12] Für den internationalen Vergleich in der Förderung Sozialer Innovationen siehe auch: Krlev et al. (2021): Finanzierung Sozialer Innovationen
[13] Siehe hierzu: Office of the Regulator of Community Interest Companies – GOV.UK (www.gov.uk)
[14] Social Investment Tax Relief: call for evidence – GOV.UK (www.gov.uk)